Paul Wühr: Anmerkungen zur Poesie. (Wiener Vorlesungen, Teil 3)

Auch in dieser dritten Vorlesung wird auf einen geordneten Vortrag Verzicht geleistet werden müssen – nicht unbedingt aber auf Zusammenstöße, Überschneidungen, Blindstellen, Mißverständnisse, Ausfälle, Fehler -, auf Fehler insbesondere und überhaupt auf ganz Falsches schon gar nicht; im übrigen auch sonst nicht. Da wäre ich also wieder bei der Poesie, meinem Thema. Mit ihm will ich mich, stotternd im Geiste des Magus in Norden: mit der ursprünglichen Unordnung – deren Herstellung mit Sicherheit mißlingen wird (ein heuchelndes Futur: denn das wußte ich bei der Abfassung dieses Satzes schon) -, die aber mein erster und fortlaufender Fehler sein muß, da ich mich noch nicht im Stande der restlosen Unvollkommenheit befinde – in meine Gedankengänge verirren.

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Ein ehemaliger Bundespräsident, dessen Name so wenig bedeutet wie viele seinesgleichen, hielt in seiner unrühmlichen Zeit den Frieden für einen hohen Wert. Aber über diesem gäbe es einen viel höheren: nämlich die Freiheit. – Wie wäre es damit, wenn wir es uns ergehen ließen, wie es Sokrates bei Johann Georg Hamann ergeht, der in den Schriften des Heraklitus dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, unterschied, und eine sehr billige und bescheidene Vermutung hat von dem Verständlichen auf das Unverständliche: also bei genauerem Durchleben der letzten Jahre dieses Jahrtausends die billige und bescheidene Vermutung zu tun von noch Verständlichem – und das ist wenig genug und wird immer weniger – auf das Unverständliche: daß es vor und über allem heute um den Frieden geht. Ich kann mit der Poesie, von der hier Hamann eigentlich sprach, nicht daran glauben, daß der ganze Text oder alles unverständlich wird, also nicht einmal die bescheidensten Vermutungen Neues entdecken können oder noch nicht Begriffenes begreifen: keine Aufklärung also mehr trotz mutigster Bescheidenheit. Nein. Poesie als Exercitium: im Unglauben an das Unleserliche.

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In der Poesie gibt es kein Diktat von oben. Wenn von oben diktiert wird, entsteht kein Gedicht. Die Poesie ist also nie unten. Sie ist nicht etwas, das nach Sachzwängen verwaltet werden muß. Sie redet in Freiheit. Der Schreiber soll im Leben so frei sein, seine Freiheit in einer Ordnung, die er wählte, nach Maßen von unbedingten Freiheiten beschränken zu lassen. Als Ausdruck der Freiheit ist Poesie so frei, sich selber zu wählen: also die Freiheit. Der Schreiber wird mit der Poesie so frei, daß er imstande ist, sie ihrer Freiheit zu überlassen. Dann wird es sein, als ob sie ihre Sache von selbst entwickeln würde. So übertreibt Poesie, wenn ein Schreiber von ihr spricht. Aber reden wir wieder von Poesie. Roland Barthes formulierte, was ich für politische Anlässe zubereitete: Freiheit kann es außerhalb der Rede (gemeint ist nicht die politische, eine besonders beschämende heutzutage, wie ich mit Hamann formulierend beschimpfen muß, sondern die literarische, die poetische) nur geben, wenn man sie nicht nur die Kraft nennt, sich der Macht zu entziehen, sondern auch und vor allem die, niemand zu unterwerfen; ich kann meinen Mund nicht halten und schreie dazu: auch nicht die Gedanken der Bürger über den Frieden, auch nicht die Gedanken darüber, wie sich ein Oben und Unten erübrigen wie im übrigen auch eine Hierarchie, die Werte wie Freiheit und Frieden höher oder tiefer bewertet. Zu jeder Zeit muß neu entschieden werden, was vorgeht. Dazu sind wir so frei. Dazu müssen wir so frei sein.

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Obwohl ich hier, in dieser Art Poetologie, von der Erfahrung ausgehe, daß von allen Systemen, von welchen auch immer – und wo ist keines? – die freie Rede, gar auch noch eine falsche, zwar weder dem Wahn entsprungen (mit der Zunge), nein schlimmer, noch von ihm gefangen (mit den Lippen), nein: feige nicht, aber doch unbestimmt, oft unentschieden, das muß ihr nachgesagt werden, vor allem aber (mit Francis Thompsons von mir verdrehter Zeile behauptet) eine bis zur Unerträglichkeit spielende, ein mit ihren, der Poesie, wirren Flechten spielend Kind: nicht zugelassen werden kann, heute weniger denn je – nur die Strafen sind milder, aber das auch nur bei uns -, also wenn das so ist, übergebe ich mich in furchtsamer Frechheit dem Wohlsinn.

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Poesie ist draußen, daneben, dahinter, jedenfalls immer abseits, keinesfalls in der Gesprächsrunde, im Diskurs, der sich dreht im Hamannschen ewigen Kreysel, also seine Rede aufbauend auf verborgenen Kräften, willkürlichen Namen oder gesellschaftlichen Losungswörtern oder Lieblingsideen. In der Arena ist man voll beschäftigt mit sich. Immer wieder aber, zur unrechten Zeit, in keiner Stunde der Wahrheit, ungebeten, auch ohne Ausweispapiere, also ohne festen Wohnsitz bestimmt, ganz plötzlich stolpert sie durch, kauderwelscht sich auf inmitten streng überprüfter Antworten als die dumme Frage. Große Verstimmung, kein Lacher.

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Die dummen Fragen binden viel Gescheites in so mancher geschlossenen Lebenswelt los. Auch in so mancher Weltanschauung geht es dann rund. In Gemeinschaften stoßen die dummen Fragen der Poesie wie Kugeln die Kegel so die Kumpane mit ihren Köpfen zusammen; so kann keiner dem anderen seinen Glauben mit einer Handbreite auf der Schulter bekräftigen. Nichts versteht sich von selbst. Von selbst wird dann mißverstanden, wenn die dumme Frage verstehen will. Poesie veröffentlicht einen Hunger nach einem Wissen, das alle Wissenden schafft. Aber das dauert nicht. Fakultäten begeben sich geschlossen ins Sekundäre, Truppenteile versteifen sich wieder frontal, Geschlechtskämpfer fallen in Schlaf, Fraktionen sind wieder immun, die Parteien bedienen sich in Gerichtssälen, um wieder vollzählig zu werden, der Guru läßt wieder anschaffen – den Kirchen sind dumme Fragen schon immer wurscht gewesen, da hat sich gar nichts geändert; nur in den Kindergärten plappert man Poesie immer weiter, das läßt mit jedem Volksschuljahr nach.

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Die dumme Frage muß eine solche nach allem sein, was in der methodisch disziplinierten Theorie vergessen worden ist oder überhaupt nicht Rücksicht finden kann. Hans Blumenberg – daran glaube ich fest – ist mit meiner anfänglichen Zugabe zu einem Zitat aus seiner Genesis der kopernikanischen Welt sicher ganz außerordentlich wissenschaftlich einverstanden. Es handelt sich bei der dummen Frage also um eine nach den Motiven; lebenswirklicher formuliert, also banaler: Wozu soll das gut sein? Was hat das mit mir persönlich zu tun? Oder mit uns (wenig, eher weniger!)? Wo ist der Sinn? – Eine lange Mauer für Graffiti. Von der Politik oder Wirtschaft – schon wieder falsch: umgekehrt – gar nicht zu lachen; als hätten diese zum Beispiel zur Zeit überhaupt noch mit dem Leben zu tun – nein: in der Hauptsache mit dem Tod, mit dem Massenmord. Und mit sehr vielen sittlich hochstehenden, wehleidigen Kriegserinnerungen, mit Reden also, mit öffentlichen, stehen wir am Rande unseres Massengrabes, derart sprechend die »geltende Sprache«, dem Übel vom Ganzen, würde der Magus in Norden warnen. Ich hocke mich mit einer dummen Frage zwischen zwei große Geister, bevor der zweite fortfährt: Was bleibt uns da anderes übrig als listig mit der Sprache umzugehen, als sie zu überlisten, sagt Roland Barthes. Dieses heilsame Überlisten, dieses Umgehen, dieses großartige Lockmittel – Zwischenruf von mir: Diese dumme Frage -, das es möglich macht, die außerhalb der Macht stehende Sprache in dem Glanz einer permanenten Revolution der Rede zu hören, nenne ich Literatur.

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Gerät Poesie, wenn sie sich mit dummen Fragen so unzuständig geriert, nicht notwendig ins Abseits? Und wenn sie dies nur deshalb mit sich geschehen ließe, um in einem Hinterhalt immer rückständiger zu werden angesichts einer Gesellschaft, in der ein Fachwort das andere Fachwort gibt und dem Fortschritt so lange das Wort geredet wird, bis von einer Zukunft ohne Worte geredet werden muß. Und kommt es so weit, wohin ist die Poesie da nicht gekommen? Warum aber läßt sie sich hinterhältig nennen? Weil ihr Hinterhalt vielleicht doch ein Nebenhalt ist? Denkt sie vielleicht doch daran, in aller Rückständigkeit auf diese Welt einzureden? Ein Hinterhalt ist dann zu wenig: Gehört wird mit zwei Ohren. Poesie hält sich zweimal daneben mit zwei Reden auf: weil sie das eine nicht lehrt und auch nicht das andere, sondern zweimal zu Richtiges weiß, einmal hier und einmal dort und jederseits ganz und gar anders: das Gegenteil bietend zu richtig hier wie dort auch, bis die Welt nicht mehr richtig im Kopf ist und sagt, was ihr Poesie eingesagt hat: das Falsche. So träumt Poesie. Das ist nur ein Traum von vielen.

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Auf Information über die Zeit muß verzichtet wer­den. Poesie, wenn überhaupt, gibt sie nicht. Sie hat nicht nur den vernünftigen Abstand zur Zeit nicht, sondern verliert ihn ganz und gar und gerät hinter sie. Dort geraten ihr die Namen und Fakten ins Durcheinander, in dem sie jedoch Bescheid weiß. Dort baut sie um. Ich erinnere an die Sage. Sagt Poesie nicht immer über die Zeit aus wie sie? Auch die Zeiten verschiebt sie, wenn es in ihrem Sinn sein muß: und dieser ist ein unverbesserlicher Eigensinn. So geht alles abhanden, was eine authentische Information heißt – und an sowas wird in poetischen Texten sowieso nur mit halbem Herzen geglaubt, und wer so dichtet, muß deshalb fühlen: denn ordentliche Leute fühlen sich in einer Poesie, wie sie hier vorgesagt wird: nicht wohl. Da bleibt sie also in vielen Büchern allein mit sich selbst. Selber schuld. Warum will sie auch nicht auf die wirkliche Wirklichkeit hören?

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Wieder im Ernst – zwischen zwei Träumen aus dem Nebenhalt heraus – hier hineingesagt: Wie die Poesie festhält, was die Zeit sagt und wie. – Vom Was keine direkte Rede. Das Wie ist so indirekt wie nur möglich, aus den Zeitwörtern. Zeitmodewörter heraus weggesagt – nicht quasi ins Ewige, mehr ins Gleichsame, in Zunamen, Zunennungen, aus Spieltrieb weggesteigert, über Vergangenes weit hinaus übertrieben. Die Nachwelt müßte hier vernünftig einschränken, abwiegeln, um Informationen aus Zeitwörtern ablesen zu können. Aber da gibt es andere Quellen. Selbst Herr Augstein klagt: Es gibt zu viel Information.

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Ich kann Poesie nicht verteidigen. Auch nicht mit meiner Lehre vom Falschen. Wenn ich das sagen darf: die ist selber poetisch, kann also nicht argumentieren, nur spielen, schon annehmen und verwerfen, aber übertreibend, das vertreibt alle ernsthaften Leute. Diese Lehre ist nur zum Spaß ernstzunehmen. Damit sitzt man nicht auf einem Lehrstuhl – oder nur ausnahmsweise und auch nur als Beispiel, wie man dort nicht sitzen soll. Und das weiß einer, der mit Poesie zu tun hat. Und er ist einverstanden damit. Er hat nichts gegen die guten, die besseren, die besten Argumente und ihren Vortrag in einer Sache und um einer Sache willen. Aber – wie schon gesagt.

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Die Poesie sitzt auf keinem Stuhl. Tiefstens dazwischen. Schon gar nicht auf einem Thron, und da gibt es ernsthaft in unserer Zeit nur noch da und dort jeweils zwei im Karneval und im Faschang, wie man einmal gesagt hat, jedenfalls zu genau seiner Zeit. Die wurde berechnet. Die läuft ab. Als jahreszeitliches Gaudium wird diese Zeit verordnet; datiert sind Anfang und Ende. – Mit Poesie muß das wenig zu tun haben. Wo ist sie berechnet? Vielleicht wird sie verordnet, aber von der Schule will ich nicht reden. Geredet soll werden vom schlimmen Verhalten der Poesie in Abläufen. Gerade da läuft bei ihr nichts und schon gar nichts Gerades; davon Genaueres bis zum schlimmsten Verlauf etwas später, traumbezogen. Hier ist von Chronik die Rede und wie übel ihr mitgespielt wird von einer Poesie, die ich meine. Sie ist nicht datiert, und wenn: vom Ende bis zum Anfang schon eher, oft von der Mitte über den Anfang zum Ende oder vom Anfang über das Ende zur Mitte, um nur einen ihrer Verläufe zu nennen. Chronikalisches also gibt es nur, damit es überlaufen werden kann. Das mußte noch gesagt werden.

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Von Konservierung des Zeitgeschehens oder besser von keiner – war schon die Rede. Nichts wird ordentlich aufbewahrt von ihr, und nichts läuft zeitgerecht ab. Gerechtigkeit übt sie aus, aber anderwo, anderwie und zu keiner bestimmten Zeit wie etwa im Karneval. Schlimm ist dieser Sprung zurück: er landet aber dort, wo noch einmal verglichen wird in Form einer Umwandlung eines Volksfestes in Poesie. Da entfallen nur die Termine: Der Karneval findet immer statt, das ganze Jahr also gibt es Narreteien, Relativierung ernsthafter Reden, Nivellierungen, Parodien, Zynismen, aber auch Lyrismen: aufgeführt von Pennern, Punkern, Rockern, Kindern, Christen, wirklichen, und sonstigen Ruhestörern, die in irritierendem Rhythmus immer und überall netten, vergnügten Spaß und Vergehen oder Verbrechen unserer Politiker, denen diese auch Spaß machen, fortsetzen bis hinein in die eigenen wilden, gar nicht verbrecherischen, aber sehr wohl ungesitteten Eruptionen, um dann diesen spaßgerechten oder unsachgerechten bis ungerechten Ballsinn mit ihrem glühenden Zorn wegzufegen oder mit ihren Lachtränen zu überschwemmen. – Das hat so wenig gute Folgen, das wirkt sich so wenig schlimm aus wie Poesie, die dann auch noch in ihrer eigenen Zeit den Sinn einer Unmöglichkeit preisgibt, die Dauer verspricht: in Form von Figurationen einer immer wieder verwirrenden Chronik. Vor der Resignation bewahrt also hier das Kunststück im Falle seines Gelingens. Ist das nicht viel? Das kann gewaltig ins Leere gehen, nicht wahr? So sieht das Ende meines Vergleichs aus. So kam der Fasching zur Poesie. Da ihm von allen Zeiten Dauer nicht gegönnt wird, erkennt er in ihrer Zeit, in der Zeit der Poesie, ein Ende nicht an: er rumort in ihr, ohne Ende, ohne Anfang. Ein Verlauf ist dort nicht mehr seine Sache: die ist in ihr wie sie selbst »auf nichts gestellt«.

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Zwischen zwei Träume der Poesie, so versprach ich, sei geredet, was ich soeben über sie vorbrachte. Hier geht es also weiter:

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Aus dem Nebenhalt heraus muß Poesie nur die Welt in ihrem geraden Sinn übertreffen, muß sie gerader nachsinnen, auch darüber, wie unmöglich das ist: richtiger noch als richtig zu sein, was ihr die Möglichkeit gibt, dieser Welt nachsinnend und im Überholen derselben als Vorläufer diese übersinnlich werden zu lassen: ungerade, schlingernd und schlimmer noch verlaufend als jemals die Poesie. So träumt sie. Das ist noch ein Traum von vielen. Jeder ihrer Träume ist aus dem Nebenhalt heraus entweder Ausfall aus diesem oder Einfall in diese Welt.

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Wie sich der Sinn dieser Poetik verschleicht, wo das Ende schon aus dem Anfang schlüpft und wortweiter und laufengelassen, ganz ohne Festes dazwischen oder ganz ohne festes Dazwischen, sprachhalber. Sprung. Bruch. Keine Brücken. Keine Methoden, nur Schreibzwang. Und so viel Stoff. Und alles, einfach ohne Ausnahme alles, der ihre, der Poesie. Und da haben wir dann die Verwandler; noch, aber mehr gehabt. Das Alte wird dann noch einmal neuer. Sehr kunstreich. Aber wieviel schlimmer die kleine Faust im Kinderzimmer sich ballt und ein Bollwerk anschiebt, bis die Klötze erstaunlich ins Unbefestigte springen – und, oder anders so weiter. Es geht um Verschiebung. Was sie vorfindet: Poesie schiebt es an, schiebt es weiter weg. Für Schübe also ist sie, diese Schieberin, richtungslos, das auch noch, und wahllos. Was vorliegt, vorgebaut, aufgestellt wurde: am Ende liegt, sitzt oder steht es verschoben; auch Ausverkauf, schwarzer, das auch noch? Ich tippe nur an.

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Hier fällt mir Francis Thompson ein, der vergessene Dichter. Deshalb vergessen, weil er katholische Oden schrieb? Er fand einfach diesen Stoff vor, nicht den schlechtesten: Theologia gehört zu den monumentalsten Gedichten unserer Welt und ihrer Geschichte, freilich geschaffen von einem gewaltigen Team, darunter gewaltige Geister, denken Sie nur an Origenes, dessen Beitrag allerdings von mit- und nacharbeitenden Vaterfiguren wieder gründlich verdorben wurde. Es soll sich übrigens immer noch um ein, ›work in progress‹ handeln; da sind die wenigsten unter uns informiert. Ich wollte sagen: diesen gewaltigen Stoff, den schob Francis Thompson, der große Poet, einfach weiter. Wohin? Dorthin sollten Sie lesen.

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Poesie redet nicht mit; sie hat schon gar nicht die gleiche, aber auch keine andere Meinung. Das Thema verfehlt sie; ihr Lieblingsthema ist dessen Verfehlung. Jedenfalls ich kann einen Wahn davon sinnen. Die Lust ist das aber nicht. Zwei küssen sich vor der Mattscheibe, während auf dieser ein Kind im Libanon brennt. Das Leben ist so. So sagt man. Ein brennendes Liebesgedicht aber in gegenwärtigster Ferne des brennenden Kindes? Wer schreibt das? Und sagt: Poesie ist eben so. Und wer macht für Poesie einen Sprecher? Poeten schreiben weiter daneben. Poesie muß eine Verfehlung sein.

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Dieser und – wie ich hoffe – alle Sätze über Poesie hier, also über das nicht richtige Falsche oder nicht richtige Richtige, sind noch nicht ganz richtig und noch nicht ganz falsch, und in dieser Hinsicht müssen diese nicht besser werden, wie zum Beispiel wir auch nicht, das wollen wir hoffen oder jedenfalls so; so unkorrigiert und in zweierlei Hinsicht in keine richtige Vollendung geraten, wären wir wahrscheinlich brauchbar für den Frieden.

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Ich spreche jetzt von der Trivialität der Poesie, und das muß – zu einer Zeit, in der Trivialliteratur hochgeschätzt wird – näher erklärt werden, und zwar vielen damit zu nahe tretend: Poesie hat keine mörderischen Ideale, mit keinem Wort auch spricht sie im Namen eines tödlichen Wertes. Sie hat keinen Sinn für das Hohe im Sinne von Über – wie überaus liebenswürdig sie ist.

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Leider sei ich ihr zu richtig, sagt sie; aus intimster Kenntnis wisse ich ja, weshalb ich ihrer weder wert noch würdig sein könne, meint sie erfreulich richtig, wie ich hier fröhlich festhalten darf.

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Poesie als Rühmung? Das fällt doch hier herein. Und um. Schon Bestätigung ist ihr zuviel. Es gibt gewaltige Sachen, wußte Gott, d. h. der Herr. Beginnen wir mit der Kirche. Dann die Schule. Das Hohe Haus. Theodor Lessing hilft mir bei der Aufzählung weiter: Es gibt unseren Staat. Dann soll es ihn geben. Mehr ist von der Poesie dazu nicht zu sagen. Aber es müßte die Polizei gerufen werden, würde gefordert zu sagen: wie gut, daß es die Polizei gibt. Notwendige Übel werden durch Anerkennung verdorben. Diese verdienen die Menschen, die Übelträger, für menschliches Handeln.

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Kaum zu glauben: Wissenschaft läßt Poesie zu – nennt zwar ihre Macher nicht etwa Poeten, sondern metaphorische Geister (eine niedrige Charge im Reich der Gedanken offenbar, da geistert auch Blamableres herum, denke ich) – und stellt sie am Rande der methodisch disziplinierten Theorie auf – siehe da: eine Aufgabe also vergibt sie, damit anscheinend eine ihrer vermuteten Gaben nicht allzu gering einschätzend, nämlich in Erinnerung bringen zu können die Fragen, zu deren Lasten Wissenschaft floriert, zu deren Beantwortung sie in Gang gesetzt worden ist, gibt Hans Blumenberg immerhin zu, der es wissen muß, da er sehr viele, wenn nicht bestimmt alle Wissenschaften von seinem Hochsitz aus überblickt. Den Randstand allerdings, so empfiehlt er, sollte Poesie, d. h. das metaphorische Gespenst, nicht verlassen, da jede unkontrollierte Überschwenglichkeit den Erfolg einer Methode störe. Diese Schwengler am Rande schwappen zwar über und verdienen deshalb nicht, Kontrolleure genannt zu werden, merkwürdigerweise aber darf man sie Konservatoren und auch noch Restauratoren nennen, nämlich als diese nebenordentlichen Randüberkipper, die ab und zu mit einer prallen, runden Metapher die methodisch Beschäftigten und vom Ursprung der einfachen Fragen weit weg Verforschten an den Sinn überhaupt oder einfach auch nur an die Sinne zurückdichten, um sie dem ganzen lebenswirklichen Motivationszusammenhang wiederzugeben. Die Wirkung? Keine. Oder werden ursprüngliche Motive der Menschen von der Technik und Wissenschaft mehr beachtet? Nach UNO-Schätzungen, teilt der Sozialpsychologe Klaus Horn mit, sind weltweit etwa 40 % aller Wissenschaftler und Ingenieure mit militärischen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten befaßt.

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Hier ein Nachtrag: Im Auftrag der Poesie werde ich die metaphorischen Geister dem Herrn auf dem Hochsitz in dieser Rede noch nachtragen in Form einer Belehrung. Poesie ist nachtragend.

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Meine Gedanken über Poetik hat es hier offenbar aus der Kurve getragen. Mit Schnelligkeit oder Selbstlob hat das nichts zu tun; ich möchte das alles noch einmal wiederholen: ich meine das Abkommen von der Richtung, die sich bog. Sie müssen nur zuhören oder nachlesen. Das geht so: Nur immer hinein in den Graben, Überschlag, mehrmals, und genau hier müßte sich der in die gerade Richtung strebende Gedanke anders in sich vertiefen und aus sich heraus drehen, bis er anderswo ein anderes Teil, das allerwerteste bestenfalls, vorzeigen kann – was mir jetzt nicht gelingen will, obwohl ich das so gerne geistvoll vorgelesen hätte, und zwar gleichzeitig mit der formvollendeten Vorführung. Aber Poesie passiert. Man kann die schlimmsten Unfälle nur schreibend erwarten.

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Sollte man mit Hans Blumenberg auf dem Hochsitz – wo er doch alles übersieht, beinahe alles – übersehen haben, daß im Zirkus der Zivilisation die Systeme schön langsam im Methodenzwang sterben, aber, weil ihr Tod so ansteckend ist: auch das Leben, diese Lebenswirklichkeit (ein wissenschaftlich gedichtetes Wort), die nur Überschwengler und so­che, die man ja kennt, wieder mit Motivation-zu-Motivation-Beatmung zurückbringen können, dann kann sich die Poesie nicht mehr auf ihr dichtes Daneben berufen. Sie muß in den Diskurszirkus einfallen und bleiben, und zwar in der Mitte. Der Einfall ist notwendig. Es soll ja lebendiger werden. Poesie benimmt sich bestimmt auch in der Mitte daneben.

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Wie hier folgt: Poesie als dummer August, das bringt keine Träne, auch wenn sie von allen Sorten welche treibt. Die dumme Frage muß freveln. Das kritische Zwischenspiel benötigt auch keine neue Startbahn. Ausgeflogen, vorläufig, leider. Die Systeme reagieren nicht, weniger denn je. Es wurde haut- und stacheldrahtnah erlebt in unserem Land der unbegrenzten Unzumutbarkeiten wie Ulrich Sonnemann, der im poetischen Sinn gerissenste Beobachter unseres deutschen Rechtsstaates, wütet: in was für einer tabuisierten Verfassung die Herausgeforderten sich befinden. Demnach: die Entartung der Poesie ist dran. Das Unvorstellbarste an Unflat und Niedrigkeit fordert sie kynologisch von sich selbst, wie schon zu seiner Zeit der Magus in Norden. So redet Poesie mit sich selbst. Ich habe sie reden hören.

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Wie stand der Homburg vor dem Staat. Wie brannten seine Fragen. – Ausflüchte. Abweisung; keine Antwort. Wie stand die Meinhof vor dem Staat. Ihre Fragen bedingungslos, ja. Ich höre noch heute das zynische Lachen in Bonn. Nicht einmal Angebote zu einem wirklichen Gespräch. Das war die Antwort. Und wie wird die Frage nach unserer Zukunft beantwortet? Mit Macht und ohne Rücksicht auf Fakten treibt die bayerische Landesregierung den Bau der Wiederaufbereitungsanlage voran. Ohnmächtige Fragesteller, wo man nachliest und mitlebt. Keine Antwort des Staates. Ich frage: Was bricht sein schwafelndes Schweigen?

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Es ist zu wenig, die Sätze erröten zu lassen vor Scham. Man sollte sie mit dem Wort ›Kot‹ zuschmieren, damit sie beschmutzt ihr kynisches Staunen aufreißen können vor dem Zynismus der Politiker, die nach massenmörderischen Verhandlungen, noch vor dem Waffenstillstandsbeschluß, einen Witz machen, der dann noch einmal tausend arme Hunde – so muß ich von Menschen hier sprechen – das Leben kostet. Jesus. Was riecht der wohl lieber: sinnlos vergossenes Blut oder stinkende Poesie.

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Unser Bruder Jesus, der sich selber ›Herr‹ nennen ließ, jedenfalls wird das heiligschriftlich erzählt, wurde von römischen und jüdischen Herren ans Kreuz geschlagen, und sein Vater schaute von oben zu. Was also haben jene, die keine Herren sind, nie sein, nie zu tun bekommen wollen mit diesen: mit diesem Kreuz zu tun? Das ist eine Herrengeschichte. – Wie die Poesie wieder umspringt mit hochherrschaftlichen Angelegenheiten, aber auch lacht, als ein mit seiner Mutter wirren Flechten spielend’ Kind, singt Francis Thompson, der große, vergessene und auch katholische Dichter, an dem ich mich hier – fehlerhaft zitierend – vergehe.

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Wie – wenn dieser Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung, dieses Wunder von solcher un­endlichen Ruhe, die, ihn, Gott, dem Nichts gleichmacht, dass man sein Daseyn aus Gewissen leugnen oder ein Vieh seyn muß – wie der Magus in Norden in seiner Æsthetica in nuce schreibt – wie also: wenn er am Ende dieses Jahrtausends sein Dasein als herrlichste Majestät selber aus Gewissen leugnete, gleich machte dem Nichts, um kein hohes Vieh mehr zu sein, – was dann? Gäbe er uns nicht das friedlichste Recht, ja machte er uns nicht zur sanftesten Pflicht: den Herrn zu vergessen? Das fiele uns aber gar nicht schwer. Und das würden wir aber gerne hören. Insbesondere Poesie kann sowieso in ihrem Gedächtnis von Menschen am besten Schwestern und Brüder bewahren. Herren behielt ihr Gedächtnis meist schlecht.

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Poesie selektiert nicht. Nichts und niemand wird von ihr ausgeschlossen. Daß aber diese Nebensache aus ihrem anarchischen Nebenhalt heraus hinterhältig die Mitte der Zivilisation besetzt, wo sonst, von allen unwahrscheinlich genau wahrgenommen, das Gesetz herrscht – ein (wie es Theodor Lessing nennt) unbarmherziges und imaginäres Abstracta, bei dessen Konkretionen es sich in der Hauptsache um Versteinerungen handelt -, das ist die Höhe, die von der Poesie und von uns unterlaufen wird, ja; und so unterlaufen sich Sätze in ihr. Sie bleibt lebendig.

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Sie will sich selbst kein Bild von sich selbst machen, in dem sie identisch erschiene: Wenn es doch geschieht – und wenn sie dennoch, nicht nur von sich selbst, sondern von allem, worüber sie redet, Bilder macht, so ist das eine Schwäche nur dann, wenn diese Bilder mit dem Begriff des Ganzen, der Identität, übereinstimmen: also abgeschlossen sind, anschaulich gleichsam im Raum, für das Auge bestimmt: in sich und im Auge ruhend. Ohne Anzeichen einer Störung dieser Ruhe in Bildern von dieser Art, ohne störende Reflexion, die sich in ihnen breitmacht und dieses Ganze zu sprengen droht, verkommen die Bilder zu vulgärem Anschauungsmaterial, das für Schulen gut sein mag. Öffnen sie sich aber im Satz, bricht der Satz selbst in ihnen, dann brechen sie selber mit diesem Bruch auf in zweierlei Sinn, dann weisen sie über sich hinaus ins Unsichtbare, werden selber unsichtbar, ohne den Widerspruch aufzugeben: sie seien derart erst wirklich sichtbar und genuin poetisch: nämlich nicht mehr räumlich zur Anschauung vorgetragen, sondern geistig. Sie sind zu sehen, aber keine Skizze eines Künstlers könnte sie festhalten, abbilden, einordnen oder gar katalogisieren. Von vorneherein läßt aber nur Poesie in sich ruhende Bilder hinter sich. Sie will nicht malend beschreiben. Ihre Rede ist von Anfang gebrochen, wird schlimmer noch verbeult und verdreht und muß sich biegen auf Biegen und Brechen zum irreparablen Schaden der Syntax, um grammatikale Bilder aus sich abzuschlagen: die sich aus ihr befreiten in eine ungestörte Unruhe weg, offen für immer. Jenseits identisch geglaubter Bildwelten, die sie mit ihrem Dasein in Selbstzweifel stürzten, so wie sie sich nicht mehr anschauen lassen und unfaßbar bleiben als Gestalten, die aufgebrochen sind über alle Grenzen hinweg. Von immerwährender Erweiterung ihrer selbst möchte der Schreiber reden, redet er von dieser Rede, wie immer übertreibend ganz ohne schlechtes Gewissen, weil es doch noch nicht heraus ist, wie weit sich im Unsichtbaren unsere Hoffnungen sichtbar machen lassen für ein anderes Sehen, das nicht von diesem Raum ist.

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Ich rede mich hier mit der Poesie nicht in unfreiwillige Komik. Ich rede immer noch von einem Sehen, das von dieser Welt ist. Ich deute jedoch nur an, daß die Welt mit sich nicht auskommt, nicht auskommen darf, will sie nicht auf sich selber verfallen im schlimmsten Sinn. Was ich jedoch über den Satz sagte, über seine notwendige Brechung, nehme ich wieder zurück bis zu ganz und gar ungebrochenen Sätzen in der Poesie, sehr genauen, um nicht zu sagen: übergenauen, denn in dieser Hinsicht kann gar nicht übertrieben werden, wenn sie alle zusammen – das geht ins Breitere, Ausgedehntere, Längere – in einem poetischen Fall bei der Verwirklichung dienen müssen – wie gesagt, einer umfangreicheren -, die nicht nur mit ihrer, der Sätze, höchster Präzision wieder so ins Offene geraten kann, daß sie nicht mehr zu fassen ist – und als einzige mit vielgestaltiger Verwirklichung Gestalt annimmt, wie ich sie schon besprach; also eine im Unsichtbaren sichtbare: als längere Rede. Poesie fällt sich selber ins Wort: Genauere Sätze werden geredet für eine über alles Genaue hinausfließende Rede. Der Satz wird als ein genauer zum Diener. Er dient so lange, bis alles fertig ist im großen und ganzen – und stürzt.

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Oder ich spreche hier nicht mehr wie soeben von Figurationen oder Tableaux und wie vorher von Gedichten, sondern von Spielen, die nicht nach ihrer Gestaltung stürzen, sondern mit ihrer Gestaltung zum Einsturz bringen. Poesie spricht die Welt nach. Dann muß sie reden wie diese Welt, wie insbesondere die Institutionen in ihr. Der Schreiber konfrontiert eine in sich logische Institution mit seinem in sich logisch gebauten Spiel. Beide – das muß betont werden – sind logisch nur in sich. Von Institutionen kann man das immer sagen, Spiele müssen so erst erfunden werden. Dem Schreiber kommt es nur darauf an, daß in der fiktiven Anordnung seines Spiels eine Institution ad absurdum geführt wird. Wenn er spielimmanent logisch bleibt, ist es Vertretern der in Frage gestellten Institution unmög­lich, ihre Fragwürdigkeit wieder aufzuheben. Eine Offensive bleibt so im Spiel erhalten: unangreifbar. Das macht Poesie, die sich verstellt, sich in ihre Gegenwelten versetzend: so abgefeimt logisch redend wie diese.

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Ich sprach von Hörspielen. Sie wurden auch Denkspiele genannt. Aber jetzt geht es noch einmal ins Monumentale, weil wieder die Rede sein soll vom Wunsch nach dem wie auch immer herbeigelogenen Totum. Da muß sich die Poesie ausdehnen. Sie muß sich dabei auch viel vormachen: Sie nähert sich dem Roman, drückt sich aber doch mit ihrem Konvolut wieder an ihm vorbei. Was verliert sie in diesen großen Ausmaßen? Nicht viel, wenn sie rücksichtslos die großen Teile des Ganzen wie Figurationen baut, die sich also, wie schon erwähnt: mit genauen Sätzen bis zur übergenauen Offenheit und Vieldeutigkeit entwickeln, was sie wiederum dem zerbrochenen Satz im Gedicht gleichstellt, der im übrigen überall Unterschlupf finden kann im Text dieser Teile. Dort wird es dem Leser erlaubt durchzubrechen. Die Teile werden bis zum Ende, das überall sein kann, wie Wörter in dem gebrochenen Satz eines Gedichtes, also in verwegener Unordnung untergebracht und also an unvermuteten Stellen, wo sie mit der Leichtigkeit poetischer Winke über sich hinausweisen können, was allerdings keinem das Denken erspart, im Gegenteil: da ist er allein – aber frei im Weiterlesen, wohin er will, wenn es nur darüber hinausgeht. Und wenn auch nur deshalb, um den Schwindel im Ganzen mit seinen Reflexionen zu verringern; weniger ist hier mehr. Mehr als alles Erfundene nämlich ist noch immer nicht genug. Genug geredet; so genau will es die Poesie gar nicht wissen. Oder kann sie in dieser Hinsicht mit sich zufrieden sein?

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Daß sie sich nicht eindeutig lyrisch ausweisen will, wie ebenso wenig dramatisch, das muß ich, in ihrem Sinn von ihr redend, nicht ausschließlich episch breittreten. Vielleicht wünscht sie sich einen Vers, der einmal derart dreifach in seinen Strophen hebt und senkt seine Füße, deren Beine oben abwechselnd in männlicher und weiblicher Zusammenkunft enden, wie sie in der Poesie so frei sind.

 

Paul Wühr: Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur Literatur. Mit Bildern von Jürgen Wolf. München (K. Kieser Verlag) 2002, (= écart 1), S. 51-70.

Wir danken dem Verlag für die Genehmigung der Wiedergabe.